* 3 *

3. Ein Dunkelpferd

 

Jenna

Gudrun die Große hielt am Palasttor Wache. Sie schwebte gut einen Meter über dem Boden und döste friedlich in der Sonne. Gudrun, die ein sehr alter Geist war und zu den allerersten Außergewöhnlichen Zauberinnen gehört hatte, träumte von jenen fernen Tagen, als der Zaubererturm noch neu war. In der grellen Sonne war sie fast unsichtbar, und Jenna und Septimus sprachen so angelegentlich über den geheimnisvollen Reiter, dass sie mitten durch sie hindurchgingen. Gudrun die Große hielt sie irrtümlich für ein Zwillingspaar, das vor langer, langer Zeit bei ihr in die Lehre gegangen war, und nickte ihnen verträumt zu.

Im Jahr zuvor hatte Alther Mella die Aufgabe übernommen, die Geschicke der Burg und des Palastes zu lenken, bis Jenna alt genug war, um Königin zu werden. Und nachdem er zehn Jahre lang hatte mit ansehen müssen, wie die verhassten Gardewächter vor dem Palast patrouillierten und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten, hielt er es für besser, wenn nie wieder Soldaten den Palast bewachten. Aus diesem Grund hatte er, der selbst ein Geist war, die Alten gebeten, als Wächter einzuspringen. Die Alten waren ältere Geister, von denen viele mindestens fünfhundert Jahre auf dem Buckel hatten, und manche, wie Gudrun, sogar noch mehr. Da ein Geist mit zunehmendem Alter immer durchscheinender wird, waren die meisten von ihnen kaum noch zu sehen. Jenna hatte sich noch nicht daran gewöhnt, durch eine Tür zu schreiten und hinterher feststellen zu müssen, dass sie mitten durch den dösenden Zweiten Hüter des königlichen Bettpfostens oder irgendeinen anderen alten Würdenträger gegangen war. Meist bemerkte sie ihren Fehler erst, wenn eine zittrige Stimme »Wünsche einen guten Morgen, schöne Maid« hinter ihr säuselte und der Geist, den sie unsanft geweckt hatte, sich zu erinnern versuchte, wo er war. Zum Glück hatte sich der Palast seit seinem Entstehen kaum verändert, so dass sich die meisten Alten noch leidlich darin zurechtfanden. Viele waren ehemalige Außergewöhnliche Zauberer, und verblasste lila Mäntel, die durch das Labyrinth der endlosen Korridore und Räume huschten, waren kein ungewöhnlicher Anblick.

»Ich glaube«, sagte Jenna, »ich bin eben wieder durch Gudrun hindurchgegangen. Hoffentlich macht es ihr nichts aus.«

»Also ich finde es immer noch komisch, dass alte Geister die Tore bewachen«, erwiderte Septimus und musterte seinen Daumen, der, wie er mit großer Erleichterung feststellte, anscheinend wieder ganz heil war. »Da kann jeder einfach reinspazieren!«

»Aber das ist ja gerade der Witz«, sagte Jenna. »Jeder soll reinspazieren können. Der Palast ist für jeden Bewohner der Burg da. Wir brauchen keine Wächter mehr, die Leuten den Zutritt verwehren.«

»Hmmm«, machte Septimus, »aber es könnte gewisse Leute geben, denen man den Zutritt verwehren muss.«

»Manchmal siehst du alles viel zu ernst, Sep. Wenn du mich fragst, hockst du viel zu oft da oben in dem miefigen alten Turm. Los, wer schneller ist.«

Sie rannte los. Septimus sah ihr nach, wie sie über den Rasen vor dem Palast flitzte, der jetzt, im Hochsommer, trocken und braun war. Die große Rasenfläche wurde durch einen Zugangsweg, der zum eigentlichen Palasteingang führte, in zwei Hälften geteilt. Der Palast war eines der ältesten Gebäude der Burg. Er war noch im alten Stil erbaut und hatte Schießscharten und Zinnen. Die Außenmauer umgab ein flacher Zierwassergraben, in dem furchteinflößende Schnappschildkröten lebten. Der vorige Bewohner, der Oberste Wächter, hatte sie zurückgelassen, und es war nahezu unmöglich, sie wieder loszuwerden. Über den Graben spannte sich eine breite niedrige Brücke und mündete in das schwere Eichentor, dessen Flügel an diesem heißen Morgen weit offen standen.

Septimus mochte den Palast inzwischen. Seine Fassade, deren gelbes Mauerwerk warm in der Sonne leuchtete, wirkte freundlich und einladend. Als Soldat der Jungarmee hatte Septimus häufig vor dem Tor Wache gestanden. Aber damals war der Palast für ihn noch ein düsteres Gemäuer gewesen, in dem der gefürchtete Oberste Wächter lebte. Dennoch hatte ihm der Wachdienst nichts ausgemacht. Zwar hatte er häufig gefroren und sich gelangweilt, aber wenigstens hatte er sich nicht zu ängstigen brauchen wie bei den meisten anderen Pflichten, die ihm in der Jungarmee abverlangt worden waren.

Im Sommer sah er häufig Billy Pot, dem königlichen Rasenschneider, bei der Arbeit zu. Billy hatte eine merkwürdige Maschine erfunden, die das Gras für ihn mähen sollte. Was sie manchmal tat, manchmal aber auch nicht. Das hing ganz davon ab, wie groß der Hunger der Graseidechsen war, die Billy in die Maschine gesperrt hatte. Die Graseidechsen waren sein Geheimnis. Zumindest bildete er sich das ein. Aber die meisten Leute wussten, wie die Maschine funktionierte. Und das war ganz einfach: Billy schob die Maschine über den Rasen, und dabei fraßen die Eidechsen das Gras. Wenn sie es nicht taten, warf sich Billy ins Gras und schrie.

Unten am Fluss hielt Billy Pot in Gehegen viele hundert Graseidechsen, und jeden Morgen suchte er die zwanzig hungrigsten aus, sperrte sie in den Kasten vorn am Rasenmäher und schob sie zum Palastrasen. Billy hoffte, eines Tages mit dem Mähen des letzten Rasenstücks fertig zu werden, bevor es Zeit wurde, wieder beim ersten zu beginnen. Hie und da hätte er nämlich gern einen freien Tag gehabt. Aber dazu kam es nie. Denn wenn er die Mähmaschine endlich über die gesamte riesige Rasenfläche geschoben und das Eidechsenvolk seine Pflicht getan hatte, musste er schon wieder von vorne anfangen.

Als Septimus jetzt über das Gras lief und Jenna einzuholen versuchte, die ihm weit enteilt war, vernahm er das wohlvertraute Scheppern, und gleich darauf erschien Billy Pot. Er schob seine Maschine über den breiten Weg, der am Wassergraben entlangführte, und strebte bedächtig dem Rasenstück zu, das er sich für heute vorgenommen hatte. Septimus rannte so schnell er konnte, damit Jennas Vorsprung nicht zu groß wurde. Aber sie war größer und schneller, obwohl sie genau gleich alt waren. Bald hatte sie die Brücke erreicht.

Sie blieb stehen und wartete, bis Septimus sie eingeholt hatte. »Komm«, keuchte sie, »suchen wir Mum.«

Sie gingen über die Brücke zum Palasteingang. Der Alte an der Tür war wach. Er saß auf einem kleinen goldenen Stuhl, der in der Sonne stand, und hatte mit liebevollem Schmunzeln beobachtet, wie sie näher gekommen waren. Er strich seinen lila Mantel glatt, denn auch er war zu seiner Zeit ein hochangesehener Außergewöhnlicher Zauberer gewesen, und schenkte Jenna ein Lächeln. »Guten Morgen, Prinzessin«, grüßte er, und seine dünne Geisterstimme klang wie aus weiter Ferne. »Wie schön, dich zu sehen. Und auch unserem Herrn Lehrling einen guten Morgen. Was machen die Verwandlungskünste? Hast du die Dreifach-Transformation noch geschafft?«

»Fast«, grinste Septimus.

»Braver Junge«, lobte der Alte.

»Guten Morgen, Godric«, sagte Jenna. »Wissen Sie zufällig, wo meine Mutter ist?«

»Zufällig ja, Prinzessin. Madam Sarah wollte in den Gemüsegarten, um Kräuter zu holen. Ich empfahl ihr, das Küchenmädchen zu schicken, aber sie bestand darauf, selbst zu gehen. Eine wunderbare Frau, deine Mutter«, sagte der Alte wehmütig.

»Vielen Dank, Godric«, sagte Jenna. »Wir werden sie schon ... He, was ist denn?«

Septimus hatte sie am Arm gepackt. »Sieh mal da«, sagte er und deutete auf eine Staubwolke, die sich dem Palasttor näherte.

Der Alte schwebte, noch in Sitzhaltung, von seinem Stuhl in die Höhe und spähte, vor dem Eingang in der Luft verharrend, in die Sonne.

»Ein Dunkelpferd«, meldete seine dünne Stimme. »Und ein Dunkelreiter.«

Septimus zog Jenna in den Schatten hinter dem Geist.

»Was tust du denn?«, protestierte Jenna. »Es ist doch nur der Reiter, den wir vorhin schon gesehen haben. Lass uns schauen, wer er ist.«

Sie trat zurück in die Sonne und beobachtete, wie der Reiter näher kam. Er saß nach vorne gebeugt im Sattel und trieb sein Pferd an. Sein schwarzer Mantel flatterte im Wind. Am Tor hielt er nicht an, sondern galoppierte einfach durch Gudrun die Große hindurch und hetzte die Zufahrt herauf. Unglücklicherweise war Billy Pot noch auf dem Weg zu seinem Rasenstück. Er hatte die Mähmaschine gerade auf die Zufahrt geschoben, als das Pferd heranpreschte. Um ihm auszuweichen, musste Billy mit seiner Maschine abrupt die Richtung ändern. Billy schaffte es, aber die Maschine nicht. Hastige Bewegungen nicht gewohnt, zerfiel sie dort, wo sie stand, in ihre Einzelteile. Die Graseidechsen stoben nach allen Seiten davon, und Billy Pot starrte fassungslos auf den Blechhaufen, der mitten auf der Palastzufahrt lag.

Der Reiter galoppierte weiter, ohne Billy Pots Verlust und die flüchtenden Eidechsen zu bemerken. Die trommelnden Hufe seines Pferdes wirbelten Staub auf, als er sich dem Palast näherte.

Jenna und Septimus hatten erwartet, dass er den üblichen Weg zu den Ställen hinter dem Palast einschlagen würde, doch zu ihrem Erstaunen kam er über die Brücke gedonnert. Gekonnt und ohne das Tempo des Pferdes zu bremsen, sprengte er über die Türschwelle und mitten durch Godric hindurch. Jenna spürte die feuchte Wärme des Tieres, als es dicht an ihr vorüberflog. Pferdegeifer klatschte auf ihr Kleid und hinterließ einen großen nassen Fleck. Sie fuhr herum, um sich zu beschweren, doch der Reiter war schon vorbei. In vollem Galopp durchquerte er die Halle. Die Pferdehufe schlitterten über die Fliesen, Funken stoben, und er bog scharf nach links in den dunklen Langgang ein. Der Langgang war ein anderthalb Kilometer langer Korridor, der den Palast wie ein Rückgrat durchzog.

Godric rappelte sich vom Boden auf und brummte: »Eine Kälte ... eine Kälte ist durch mich hindurchgegangen.« Zitternd sank er auf seinen Stuhl und schloss die durchscheinenden Augen.

»Alles in Ordnung, Godric?«, fragte Jenna besorgt.

»Doch, doch«, wisperte der alte Geist. »Danke der Nachfrage, Euer Ehren, äh, danke, Prinzessin, wollte ich sagen.«

»Ist auch wirklich alles in Ordnung?« Jenna sah den Geist forschend an, doch der war bereits eingeschlafen.

»Los, Sep«, flüsterte Jenna. »Lass uns nachsehen, was hier los ist.«

Nach der grellen Sonne draußen kam es ihnen im Innern des Palastes dunkel vor. Jenna und Septimus rannten durch die Haupthalle zum Langgang und spähten in den scheinbar endlosen, schwach erleuchteten Korridor, doch von dem Reiter war nichts mehr zu sehen oder zu hören.

»Er ist verschwunden«, flüsterte Jenna. »Vielleicht war es ein Geist.«

»Komischer Geist«, erwiderte Septimus und deutete auf den verblassten roten Teppich, der die großen alten Fliesen bedeckte. Deutlich waren darauf Hufabdrücke zu erkennen. Sie folgten ihnen in den Ostteil des Korridors. Früher, bevor der Oberste Wächter den Palast bewohnte, hatte der Langgang Kunstwerke wie kostbare Statuen, herrliche Wandbehänge und prunkvolle Gobelins beherbergt, aber jetzt war er nur noch ein Schatten einstiger Pracht. Zehn Jahre lang hatte der Oberste Wächter hier geherrscht, und in dieser Zeit hatte er alle Schätze des Palastes verkauft, weil er Geld für seine verschwenderischen Bankette brauchte. Jenna und Septimus kamen jetzt an ein paar alten Gemälden einstiger Königinnen und Prinzessinnen vorbei, die man aus dem Keller geborgen hatte, und auch an mehreren leeren Holztruhen mit aufgebrochenen Schlössern und verbogenen Scharnieren. Nach drei Königinnen, die alle etwas muffig dreinblickten, und einer schielenden Prinzessin bogen die Hufabdrücke scharf rechts ab und verschwanden durch die Flügeltür des Ballsaals. Die Tür stand sperrangelweit offen, und die beiden folgten der Spur nach drinnen. Von Pferd und Reiter war nichts zu sehen.

Septimus stieß einen leisen Pfiff aus. »Ganz schön geräumig, die gute Stube.«

Der Ballsaal war in der Tat riesig. Zu der Zeit, als der Palast erbaut wurde, so hieß es, hatte die gesamte Einwohnerschaft der Burg im Ballsaal Platz gefunden. Heute stimmte das zwar nicht mehr, aber er war immer noch der größte Raum in der ganzen Burg. Der Saal war haushoch, und die gewaltigen, aus vielen Buntglasscheiben bestehenden Fenster reichten vom Fußboden bis zur Decke und warfen allerlei Regenbogenfarben auf das glänzende Parkett. Der untere Teil der Fenster stand wegen der Hitze an diesem Sommermorgen offen. Sie gingen hinaus auf den Rasen hinter dem Palast, der zum Fluss hinunterführte.

»Er ist fort«, sagte Jenna.

»Oder hat sich in Luft aufgelöst«, raunte Septimus. »Wie sagte der Alte: ein Dunkelpferd und ein Dunkelreiter.«

»Sei nicht albern«, sagte Jenna. »So hat er das nicht gemeint. Du warst zu lange da oben im Turm mit deiner schreckhaften Zauberin und ihrem Schatten zusammen. Sieh doch, er ist durch das Fenster da hinaus.«

»Das kannst du doch nicht wissen«, widersprach ihr Septimus leicht beleidigt, weil sie ihn albern genannt hatte.

»Und ob ich kann«, sagte Jenna und deutete auf ein paar Pferdeäpfel, die auf der Stufe dampften. Septimus verzog das Gesicht. Vorsichtig traten sie hinaus auf die Terrasse.

In diesem Augenblick hörten sie Sarah Heap schreien.

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